< Zurück zum Blog
Das Dokument als PDF abrufen: Hier klicken!

LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/12703

 

17.08.2016

 

 

 

 

Antwort

 

der Landesregierung

auf die Kleine Anfrage 4960

des Abgeordneten Daniel Schwerd    FRAKTIONSLOS

Drucksache 16/12503

 

 

 

Maßnahmen und Einschätzung der Landesregierung zur Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer des §175 StGB

 

 

 

Wortlaut der Kleinen Anfrage

 

„Seid vor allem immer fähig, jede Ungerechtigkeit gegen jeden Menschen an jedem Ort der Welt im Innersten zu fühlen. Das ist die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs.“ - Che Guevara

 

Der nordrhein-westfälische Landtag hat in seiner Beratung vom 13.09.2012 den Antrag „Rehabilitierung verurteilter homosexueller Menschen“ (Drucksache 16/812, Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen) mit Stimmen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Piraten bei Enthaltung der CDU verabschiedet. Eine entsprechende Bundesratsinitiative war ebenfalls erfolgreich. Bis heute hat Bundesjustizminister Heiko Maas allerdings noch keinen Gesetzesentwurf zur Rehabilitierung und Entschädigung von nach §175 StGB verurteilten Männern vorgelegt. Bekannt geworden ist Ende Juni 2016 lediglich ein Eckpunktepapier, aus dem hervorgeht, dass lediglich ein Teil der Urteile aufgehoben werden soll und dass eine Entschädigung an Nachweispflichten für die Opfer gebunden werden soll.

 

 

Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 4960 mit Schreiben vom 16. August 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales und der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortet.

 

 

1.      Wurden seit dem Beschluss des Landtags NRW zur Bundesratsinitiative zur Rehabilitierung der Opfer des §175 StGB vom 13.09.2012 noch Aktenbestände der Justiz in NRW zum §175 StGB vernichtet? Nennen Sie sämtliche vernichteten Akten und begründen Sie es für jeden einzelnen Fall.

 

2.      Welche Maßnahmen hat die Landesregierung zur Sicherung und Aufarbeitung der Kriminal-, Gerichts- und Haftakten zu Strafverfahren nach §175 StGB sowie zur Wiedergutmachung seit 2012 unternommen? Nennen Sie jede Maßnahme mit Zeitpunkt und Folgen.

 

Die Aussonderung von Ermittlungs- und Strafverfahrensakten nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist richtet sich nach der Verordnung über die Aufbewahrung von Schriftgut in der Justiz und Justizverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (AufbewahrungsVO NRW). Die Verordnung beruht auf § 120 Justizgesetz NRW und ist bundesweit abgestimmt. Sie regelt die Einzelheiten über das aufzubewahrende Schriftgut und die hierbei zu beachtenden Aufbewahrungsfristen.

 

Die Aufbewahrungsfristen für Ermittlungs- und Strafverfahrensakten, die den zum 11.06.1994 aufgehobenen § 175 StGB zum Gegenstand hatten, betrugen bzw. betragen:

 

Ø  in Verfahren, die nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung führten: 10 Jahre,

 

Ø  in Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Geldstrafe oder zu einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr: höchstens 15 Jahre,

 

Ø  in Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr: bis 2013 20 Jahre. Seit 2014 beträgt die Aufbewahrungsfrist infolge einer im Einvernehmen mit allen Landesjustizverwaltungen erfolgten Änderung der AufbewahrungsVO NRW 30 Jahre.

 

Hinsichtlich der Frage einer Verlängerung von Aufbewahrungsfristen bestimmt § 2 Abs. 3 AufbewahrungsVO NRW Folgendes:

 

„Erscheint eine Aufbewahrungsfrist im Einzelfall aus besonderen Gründen zu kurz, so kann bei der Weglegung eine längere Aufbewahrungsfrist durch die Richterin bzw. den Richter oder die Beamtin bzw. den Beamten bestimmt werden. Dasselbe gilt, wenn Personen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen, einen Antrag auf längere Aufbewahrung stellen.“

 

Bezüglich der aufgeworfenen Frage nach der Aussonderung von Aktenbeständen betreffend den aufgehobenen § 175 StGB nach dem 13.09.2012 bedeutet dies Folgendes:

 

Ø  In einschlägigen Verfahren, die nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung führten, lief die Aufbewahrungsfrist spätestens Ende 2004 ab.

 

Ø  In Verfahren, in denen eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Geldstrafe oder zu einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr erfolgte, endete die Aufbewahrungsfrist spätestens mit Ablauf des Jahres 2009.

 

Ø  In Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr lief bzw. läuft die bis 2013 geltende Aufbewahrungsfrist von 20 Jahren spätestens mit Ablauf des Jahres 2013 und die ab 2014 geltende neue Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren spätestens Ende 2024 ab.

 

Am 13.09.2012 war somit die Aufbewahrungsfrist in allen Fällen bereits abgelaufen mit Ausnahme der Verfahren mit rechtskräftigen Verurteilungen in den Jahren 1992 bis 1994 zu Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr, wobei für das Jahr 1994 die neue Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren gilt. Die Frage einer etwaigen Aussonderung einschlägiger Verfahrensakten nach dem 13.09.2012 betrifft mithin allein einschlägige Verurteilungen in den Jahren 1992 und 1993 zu Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr.

 

Die Strafverfolgungsstatistik weist für Nordrhein-Westfalen vier solcher Verurteilungen aus. Ob die hierzu geführten Akten inzwischen ausgesondert, nach § 2 Abs. 3 AufbewahrungsVO NRW aus besonderen Gründen oder auf Antrag länger aufbewahrt oder etwa gemäß dem Archivgesetz Nordrhein-Westfalen (ArchivG NRW) an das Landesarchiv abgegeben wurden, wo sie nach § 5 Abs. 2 ArchivG NRW auf Dauer sicher zu verwahren wären, lässt sich in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht feststellen. An zentraler Stelle ist nur erfasst, bei welchen Behörden die Verfahren geführt wurden. Dort aber ließe sich nur durch eine Durchsicht des gesamten weggelegten Aktenbestandes feststellen, ob die in Betracht kommenden Akten noch vorhanden sind. Denn eine elektronische Recherche nach etwaigen einschlägigen Datensätzen ist nicht möglich, weil das elektronische Erfassungssystem MESTA den 1994 weggefallenen Tatbestand des § 175 StGB in seinem Katalog nicht mehr enthält.

 

Ähnliches gilt für die bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen nach § 1 Abs. 1 Satz 2 Polizeigesetz NRW (PolG NRW) geführten Kriminalakten. Die Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten richtet sich insoweit nach § 32 PolG NRW und den KpS-Richtlinien gemäß RdErl. des Innenministeriums vom 25.08.2000 (SMBl. NRW. 2056). Im Sinne der Fragestellung einschlägige Akten dürften zumindest ganz überwiegend bereits vor dem 13.09.2012 vernichtet worden sein. Dies lässt sich indes nicht mehr klären, weil auch insoweit weder eine automatisierte Abfrage noch eine Auswertung des gesamten Kriminalaktenbestandes in Nordrhein-Westfalen von Hand in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit möglich ist.

 

Die Rehabilitierung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten ist der Landesregierung ein wichtiges Anliegen. Diesem Anliegen hat sie in der Bilanz und Fortschreibung des NRW-Aktionsplans für Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt - gegen Homo- und Transphobie mit verschiedenen Maßnahmen Rechnung getragen und an entsprechenden Entschließungen des Bundesrates sowie der Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister hat Nordrhein-Westfalen maßgeblich mitgewirkt. Darüber hinaus wurde mit der Förderung der Hirschfeld-Tage vom 04.04.2014 bis zum 18.05.2014 in zahlreichen landesweiten Veranstaltungen ein Zeichen gegen das Vergessen und für gesellschaftliche Wiedergutmachung gesetzt. Seit dem 01.02.2015 bis Ende 2016 wird von der Landeszentrale für politische Bildung ein Projekt zur Aufarbeitung der Diskriminierung von Homosexuellen-Lebenswegen in den Jahren 1945 bis 1969 durch Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gefördert.

 

Ob und ggf. welche weiteren Maßnahmen von Seiten der Länder - ggf. in einem bundesweit abzustimmenden Verfahren - angezeigt sein werden, um die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen zu ermöglichen, wird sich erst nach Vorlage eines Gesetzentwurfes bzw. eines Gesetzes des Bundes zeigen.

 

 

3.      Mit welchen Maßnahmen wird die Landesregierung die betroffenen Opfer des §175 StGB dabei unterstützen, ihre Verfolgung nachweisen zu können?

 

4.      Wie beurteilt die Landesregierung das „Eckpunktepapier“ von Bundesjustizminister Maas zur Rehabilitierung und Entschädigung nach §175 StGB?

 

 

5.      Teilt die Landesregierung die Auffassung des Bundesjustizministers, der zufolge nur ein Teil der Urteile nach §175 StGB aufzuheben sei?

 

Die Landesregierung begrüßt, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz das in der Kleinen Anfrage angesprochene Eckpunktepapier als Diskussionsgrundlage für die Ausgestaltung eines Gesamtkonzeptes zur Rehabilitierung der Betroffenen vorgelegt hat. Eine Bewertung von Einzelaspekten dieses Eckpunktepapiers – etwa mit Blick auf Ausnahmen von einer pauschalen Aufhebung einschlägiger Urteile bei Handlungen, die auch heute noch unter Strafe stehen – ist gegenwärtig nicht angezeigt. Dem erst noch anstehenden Gesetzgebungsverfahren soll nicht vorgegriffen werden. Dies gilt auch hinsichtlich etwaiger Nachweisanforderungen im Rahmen einer möglichen Individualentschädigung, für die in dem Eckpunktepapier ausdrücklich zur Erörterung gestellt wird, Beweiserleichterungen vorzusehen oder bloße Plausibilität genügen zu lassen.

 

 


< Zurück zum Blog
Das Dokument als PDF abrufen: Hier klicken!