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LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/13248

 

25.10.2016

 

 

 

 

Antwort

 

der Landesregierung

auf die Kleine Anfrage 5171 vom 26. September 2016

des Abgeordneten Daniel Schwerd   FRAKTIONSLOS

Drucksache 16/13020

 

 

 

Videobeobachtung durch Dortmunder Polizei bei „Es reicht“-Demonstration illegal?

 

 

 

Vorbemerkung der Kleinen Anfrage

 

„Nur wer sich bewegt, spürt seine Fesseln“.

Rosa Luxemburg

 

Nach Angriffen von Neonazis auf junge Antifaschisten in Dortmund stellt sich eine breite Initiative von über 40 Organisationen der rechtsextremen Gewalt in der Stadt entgegen. Rund 2000 Demonstranten gingen am Samstag, den 24. September 2016 unter dem Motto „Es reicht“ auf die Straße. Die Demonstration verlief „ausgesprochen friedlich“, so wird berichtet [1]. Die Dortmunder Polizei unterstütze das Engagement ausdrücklich, hieß es im Vorfeld [2].

 

Beobachter berichteten, dass die friedliche Demonstration von Kamerawagen der Polizei beobachtet wurde. Dies wurde durch die Polizei Dortmund bestätigt, sie habe „reine Übersichtsaufnahmen für den Polizeiführer“ durchgeführt [3]. Dem Anfragesteller wurde übermittelt, es wäre keine Speicherung der Aufzeichnung erfolgt [4]. Damit wurde die reine Beobachtung durch Kamerawagen bestätigt.

 

Das Verwaltungsgericht Münster hat in einem Urteil vom 21. August 2009 mit dem Az. 1 K 1403/08 [5] eine Videobeobachtung einer Demonstration im Jahre 2008 für rechtswidrig erachtet.

 

Beamte des Polizeipräsidiums N. richteten sowohl bei der Auftaktkundgebung als auch bei dem Demonstrationszug von einem vorausfahrenden Polizeiwagen aus deutlich erkennbar eine Kamera auf die Demonstrationsteilnehmer, so heißt es im Urteil. Die auslösebereite Kamera übertrug die Bilder auf einen Monitor in einem Polizeifahrzeug (Beweissicherungsfahrzeug). Auf Proteste des Klägers sowie des Versammlungsleiters sowohl im Rahmen der Auftaktveranstaltung als auch später während des Aufzuges teilten die Polizeibeamten mit, eine Aufzeichnung erfolge gegenwärtig nicht und werde lediglich im Falle von Störungen bzw. Verstößen gegen das Versammlungsgesetz erfolgen. Zu solchen kam es nicht.

 

Das Gericht stellte fest, dass das „Richten einer aufnahmebereiten Kamera auf die Demonstrationsteilnehmer nebst Übertragung der Bilder auf einen Monitor … den Kläger in seinen Grundrechten“ verletze. Die Videobeobachtung beeinträchtige die innere Versammlungsfreiheit. Bürger könnten von der Teilnahme an der Versammlung abgeschreckt werden oder sich in dieser nicht frei bewegen. Auf eine tatsächliche Aufzeichnung oder Speicherung kommt es nicht an.

 

Eine Beobachtung sei aber nur vertretbar, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen.“ Diese lagen im Urteilsfalle, aber auch im Falle der Dortmunder „Es reicht“-Demonstration erkennbar nicht vor. Die Versammlung in Dortmund war durchgängig friedlich und ohne Zwischenfälle, und es waren auch keinerlei Risiken im Vorfeld bekannt. Die Gefahr der Begehung von Ordnungswidrigkeiten o.ä. schwache Gründe rechtfertige diesen Grundrechtseingriff jedenfalls nicht, so das Gericht in seinem Urteil.

 

Es ist ein Widerspruch, wenn die Dortmunder Polizei die Demonstration einerseits „unterstützt“, andererseits durch eine Videobeobachtung selbst einen Abschreckungseffekt auslöst. Sie wird ja wohl kaum eine Demonstration ausdrücklich unterstützen, von der sie erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erwartet. Anlässe für eine Neubewertung des Risikos der Demonstration hat es nachweislich nicht gegeben.

 

Man muss auf Basis dieses Urteils davon ausgehen, dass die Videobeobachtung in Dortmund offenbar rechtswidrig war, da die Vorbedingungen der beiden Demonstrationen offenkundig vergleichbar sind, und die Begründungen vollkommen analog verlaufen können.

 

 

Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 5171 mit Schreiben vom 24. Oktober 2016 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister beantwortet.

 

 

1.      Auf welchen rechtlichen Grundlagen erfolgte die erkennbare und bestätigte Videobeobachtung der von Anfang an friedlichen Demonstration in Dortmund vom 24. September 2016?

 

2.      Inwieweit ist diese Beobachtung nach Auffassung der Landesregierung - unter Berücksichtigung des Urteils des VG Münster - rechtlich zulässig bzw. unzulässig gewesen?

3.      Inwieweit ist die Landesregierung der Auffassung, eine Beobachtung der von Beginn an friedlichen Demonstration verletze bzw. verletze nicht die informationelle Selbstbestimmung der Demonstranten bzw. deren Recht auf Versammlungsfreiheit? Gehen Sie dabei auch auf den genannten Abschreckungseffekt einer Videobeobachtung ein.

 

4.      Welche Konsequenzen werden aus der - möglicherweise illegalen - Videobeobachtung in Verbindung mit dem genannten Urteil des VG Münster gezogen?

 

Gegen die in der Frage angeführte Entscheidung des VG Münster wurde seinerzeit ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Mit Beschluss vom 23.11.2010 - 5 A 2288/09 (NWVBl. 2011, 151) hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster (OVG Münster) den Antrag zurückgewiesen. Es hat dabei allerdings auch die Voraussetzungen präzisiert, unter denen ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG und in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu bejahen und somit die Erforderlichkeit einer Rechtsgrundlage gegeben ist.

 

In Bezug auf Art. 8 Abs. 1 GG hat das OVG Münster bloßen Übersichtsaufnahmen, die erkennbar der Lenkung eines Polizeieinsatzes namentlich von Großdemonstrationen dienen und hierfür erforderlich sind, als auch einer reinen Beobachtung durch begleitende Beamte oder sonstige Dritte die Eingriffsqualität abgesprochen. Hinsichtlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sah das OVG Münster die Eingriffsschwelle überschritten, "weil die die Versammlung begleitende Beobachtung eine Individualisierung von Versammlungsteilnehmern ermöglichte, von großer Streubreite war und der Beklagte mit ihr zudem eine gewisse Beeinflussung der inneren Versammlungsfreiheit beabsichtigt hatte" (OVG Münster, aaO). Abschließend verweist das OVG Münster auf die Erforderlichkeit einer Bewertung des jeweiligen Einzelfalles. "Danach ist jeweils durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles zu ermitteln, ob eine Videobeobachtung ein Betroffensein in einer den Grundrechtsschutz auslösenden Qualität zur Folge hat. Dabei ist maßgeblich auch zu berücksichtigen, ob die Videobeobachtung in ihrer konkreten Ausgestaltung geeignet ist, einzelne Bürger von der rechtmäßigen Ausübung ihrer Grundrechte wie z.B. der Versammlungsfreiheit abzuhalten, weil sie nicht übersehen können, ob ihnen daraus Risiken entstehen" (OVG Münster, aaO, 152).

 

Gemessen an diesen Kriterien der Rechtsprechung ist das Vorgehen der Polizei nicht zu beanstanden. Die der Kleinen Anfrage zugrunde liegende Versammlung ist schon von ihrer Größenordnung nicht mit der Versammlung vergleichbar, die Gegenstand der Entscheidungen des VG und des OVG Münster war. Die Versammlung am 24.09.2016 hatte 2000 Teilnehmer gegenüber 40 - 70 Teilnehmern der damaligen Versammlung.

 

Das PP Dortmund hat am 24.09.2016 Live-Bilder der Versammlung für den Polizeiführer übertragen. Die Bilder wurden nicht aufgezeichnet oder gespeichert. Hierbei handelte es sich um Übersichtsaufnahmen zur Leitung und Lenkung des Polizeieinsatzes, deren Erforderlichkeit sich aus der im Vorfeld der Versammlung erstellten Gefahrenprognose ergab.

 

Die Entscheidung, diesen Einsatz nicht vor Ort zu führen, ist - in Ergänzung polizeitaktischer Belange - insbesondere darauf zurückzuführen, dass es sich um eine komplexe Einsatzlage handelte. Bei dieser sind verschiedene Ereignisse hochgradig miteinander vernetzt und es besteht eine hohe Eigendynamik bei gleichzeitiger Intransparenz vieler Probleme. Der Polizeiführer ist als Einsatzleiter verantwortlich für die wesentlichen Entscheidungen im Rahmen der Leitung und Lenkung des Einsatzes. Insofern sind Bilder aus dem Einsatzraum erforderlich, um diese Leitungsfunktion wahrnehmen zu können.

 

Die Übersichtsaufnahmen sind mittels des Einsatzes eines colorierten Funkstreifenwagens offen angefertigt worden. Für die Anfertigung dieser Übersichtsaufnahmen wurden andere Kräfte eingesetzt als für die Beweissicherung. Wie auch aus den in der Kleinen Anfrage zitierten Tweets ersichtlich ist, ist im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit (Twitter) breit über die Maßnahme informiert worden.

 

Unter Einbeziehung all dieser Umstände ergibt die vom OVG Münster geforderte Gesamtbetrachtung aller Umstände, dass die Anfertigung der Übersichtsaufnahmen keine den Grundrechtsschutz auslösende Qualität hatte. Insbesondere die vom OVG Münster für einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung geforderte Absicht der Beeinflussung der inneren Versammlungsfreiheit ist nicht festzustellen.

 

Zur Untermauerung dieses Befundes kann ergänzend eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 17.02.2009 - 1 BvR 2492/08 (NVwZ 2009, 441) herangezogen werden. Bei Übersichtsaufnahmen in Echtzeit, die nicht gespeichert werden und damit nur von flüchtiger Natur sind, kommt nach dieser Entscheidung einem möglichen Einschüchterungseffekt durch die Präsenz einer Kamera, die das Geschehen an eine andere, nicht übersehbare Stelle überträgt, nur dann Durchschlagskraft zu, wenn eine durch Übersichtsaufnahmen zentralisierte Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes den jeweiligen Umständen nach von vornherein nicht erforderlich ist wie in der Regel in geschlossenen Räumen (BVerfG, aaO, S. 447).

 

Vorliegend war die Erforderlichkeit entsprechender Übersichtsaufnahmen indes gegeben. Es besteht daher keine Notwendigkeit, aus der Rechtsprechung für vergleichbare Einsatzsituationen Konsequenzen im Sinne eines abweichenden Einsatzverhaltens abzuleiten.

 

 

5.      Inwieweit und unter welchen Umständen ist die Videobeobachtung von friedlichen Kundgebungen polizeiliche Praxis? Nennen Sie alle bekannten Fälle sowie entsprechende Dienstvorschriften.

 

Zu Übersichtsaufnahmen zur Leitung und Lenkung des Polizeieinsatzes siehe Antwort zu Fragen 1 bis 4.

 

Im Übrigen fertigt die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen Bild- und Tonaufnahmen bzw. -aufzeichnungen bei Einsätzen aus Anlass von Versammlungen grundsätzlich nach Maßgabe der rechtlichen Voraussetzungen des Versammlungsgesetzes bzw. der Strafprozessordnung an. Bild- und Tonaufnahmen/-aufzeichnungen werden daher nur im Zusammenhang mit Straf- und Ordnungswidrigkeiten oder in den Fällen vorgenommen, in denen Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von Teilnehmern eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Eine anlassunabhängige undifferenzierte „Videoüberwachung“ erfolgt nicht.

 

Auf Landesebene liegt keine Auflistung aller Einsätze aus Anlass versammlungsrechtlicher Veranstaltungen vor, bei denen Bildaufnahmen und Tonaufnahmen bzw. -aufzeichnungen gefertigt wurden. Eine Erhebung der erbetenen Daten würde eine händische Auswertung der polizeilichen Vorgänge mit Demonstrationsbezug bedingen und wäre mit hohem Verwaltungsaufwand verbunden. In der zur Bearbeitung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit war eine solche Datenauswertung nicht möglich.

 

 



[1] http://www.ruhrnachrichten.de/staedte/dortmund/44137-Dortmund~/Es-reicht-Kampagne-in-Dortmund-2000-Teilnehmer-demonstrierten-gegen-rechte-Gewalt;art930,3119262

[2] http://www.ruhrnachrichten.de/staedte/dortmund/44137-City~/Es-reicht-Kampagne-am-Samstag-Demo-gegen-Nazi-Gewalt-Busse-fahren-anders;art930,3118799

[3] https://twitter.com/PolizeiDortmund/status/779666456585854977

[4] https://twitter.com/PolizeiDortmund/status/779670727742160896

[5] https://openjur.de/u/140363.html


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