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LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/3441

 

02.07.2013

 

 

 

 

Antrag

 

der Fraktion der PIRATEN

 

 

 

 

Britisches Überwachungsprogramm „Tempora“ ist unionsrechtswidrig: Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien einleiten!

 

 

I. Sachverhalt

Ungefähr zwei Wochen nach Bekanntwerden des als streng geheim eingestuften Kommunikationsdatenüberwachungsprogramms PRISM des US-amerikanischen Geheimdienstes National Security Agency (NSA) veröffentlichte die britische Tageszeitung „The Guardian“ weitere vom ehemaligen CIA- und NSA-Mitarbeiter Edward Snowden stammende Informationen. Demnach soll die britische Regierungsbehörde Government Communications Headquarters (GCHQ) im Rahmen ihres Überwachungsprogramms „Tempora“ eine im Vergleich zu PRISM deutlich weitgehendere anlasslose und verdachtsunabhängige Überwachung von Kommunikationsdaten vornehmen, da sowohl Telekommunikationsdaten als auch der Datenverkehr im Internet davon erfasst seien.

 

Im Rahmen des GCHQ-Programms „Tempora“ sollen den Angaben zufolge neben E-Mails, Einträgen in sozialen Netzwerken wie Facebook und Telefongesprächen auch persönliche Informationen der Nutzer (z.B. Passwörter) analysiert und 30 Tage lang gespeichert werden. Insgesamt sollen zusätzlich zu den Mitarbeitern der GCHQ auch Experten der NSA sowie beauftragte Spezialisten Zugang zu den Überwachungsdaten haben.

 

Ähnlich wie im Falle des NSA-Überwachungsprogramms PRISM dient geltendes nationales Recht der massenhaften Datenüberwachung durch „Tempora“ als Rechtsgrundlage. Der bereits mehrfach novellierte und politisch umstrittene „Regulation of Investigatory Powers Act 2000“ räumt den im Gesetz genannten staatlichen Stellen, darunter die GCHQ, das Recht zur Durchführung von Überwachungsmaßnahmen im Dienste der nationalen Sicherheit, zum Zweck der Verbrechensbekämpfung, zum Erhalt der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit sowie zum Schutz der nationalen wirtschaftlichen Interessen des Vereinigten Königreichs ein.

 

Gemäß der britischen Rechtsgrundlage bedarf es dazu auf Anfrage durch die Leitung einer polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Behörde einer ministeriellen Ermächtigung. Die Ermächtigungen können zwar grundsätzlich nur zur Überwachung einer Person bzw. eines Gebiets, indem die Überwachung der entsprechenden Person stattfinden soll, ausgestellt werden. Mittels einer an die Ermächtigungsgrundlage gekoppelte „ministerielle Sonderkompetenz“ (certificate) können den antragstellenden Regierungsbehörden jedoch weitreichende Kompetenzen hinsichtlich des Umfangs und der Ausgestaltung der Überwachungsmaßnahmen übertragen werden. Somit könnten die genannten Beschränkungen der Überwachungsmaßnahmen umgangen und eine massenhafte anlasslose Datenüberwachung betrieben werden.

 

Eine formale Anfrage des deutschen Innenministeriums bezüglich der Erfassung und Verarbeitung personenbezogener Daten aus Deutschland durch „Tempora“ wurde von der britischen Regierung mit Hinweis auf die grundsätzliche Informationsverweigerung bei Geheimdienstangelegenheiten zurückgewiesen. Auch eine vergleichbare Anfrage der Europäischen Kommission an das britische Außenministerium blieb unbeantwortet (Stand: 02.07.2013). Die Europäische Kommission bat nach eigenen Aussagen um Aufklärung, inwiefern das Überwachungsprogramm „Tempora“ allein auf die nationale Sicherheit begrenzt sei oder ein größeres Ausmaß habe. Zudem wollte die Kommission erfahren, ob die erhobenen Daten allein in Großbritannien verwendet oder sogar mit anderen Staaten geteilt würden.

 

Im Unterschied zum US-Programm PRISM handelt es sich bei „Tempora“ um ein Programm der britischen Regierung. Als Mitgliedstaat der Europäischen Union ist das Vereinigte Königreich nach Artikel 4 EUV zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Lissabon-Vertrag verpflichtet. Dieser gewährt in Artikel 16 AEUV jeder Person „das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten“. Damit steht die Rechtsgrundlage des „Tempora“-Programms im Spannungsfeld mit der auch für das Vereinigte Königreich geltenden Rechtsordnung der Europäischen Union.

 

Bei angenommener Nichteinhaltung der europäischen Rechtsordnung kann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat von der Europäischen Kommission nach Artikel 258 AEUV („Aufsichtsklage“) oder von einem Mitgliedstaat nach Artikel 259 AEUV in die Wege geleitet werden. Insbesondere die Aufsichtsklage der Kommission spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung und Durchsetzung der europäischen Rechtsordnung. Die Europäische Kommission ist als „Hüterin der Verträge“ grundsätzlich dazu verpflichtet, gegen objektive Verletzungen des Unionsrechts einzuschreiten. Als Vertragsverletzung kommen sowohl Verstöße gegen das Primär- als auch Sekundärrecht einschließlich der Allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union durch Handlungen aller nationalen Instanzen in Betracht.

 

Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 und 259 AEUV setzen zunächst ein „außergerichtliches Vorverfahren“ voraus, das nicht nur zwingende Zulassungsvoraussetzung für eine Klageerhebung beim Europäischen Gerichtshof darstellt, sondern insbesondere der weiteren Aufklärung und der klaren Umreißung des Streitgegenstandes dient. Das Vorverfahren besteht aus zwei Schritten: Im ersten wird dem Mitgliedstaat ein Mahnschreiben übermittelt, in dem sie den bisherigen Sachstand einschließlich des Vorwurfs der Vertragsverletzung schildert. Der betroffene Mitgliedstaat kann in einer vorher festgelegten Frist seinen rechtlichen Verpflichtungen im Sinne der Kommission nachkommen oder seine eigene abweichende Rechtsauffassung noch einmal bekräftigen. In einem zweiten Schritt kann die Kommission dann eine „mit Gründen versehende Stellungnahme“ abgeben. Diese fordert den betroffenen Mitgliedstaat auf, den nach Ansicht der Kommission vertragswidrigen Zustand binnen einer Frist zu beseitigen. Geschieht dies nicht, kann die Kommission den Europäischen Gerichtshof anrufen.

 

 


 

II. Der Landtag stellt fest

 

1.      Eine Rechtsanwendung des „Regulation of Investigatory Powers Act 2000“ durch britische Regierungsbehörden, welche die massenhafte anlasslose und verdachtsunabhängige Ausspähung, Speicherung und Analyse von internationalen Kommunikationsdaten möglich macht, ist in keinem Falle mit Artikel 16 AEUV (Recht auf Schutz personenbezogener Daten) vereinbar.

 

2.      Die nicht zuletzt aufgrund der Äußerungen von Edward Snowden kursierenden Informationen zum Datenüberwachungsprogramm „Tempora“ stellen einen ausreichend begründeten Anfangsverdacht eines Unionsrechtsverstoßes durch das Vereinigte Königreich dar, welcher die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 258 bzw. 259 AEUV nicht nur nahelegt, sondern zwingend erforderlich macht.

 

 

III. Der Landtag beschließt

 

1.      Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich im Bundesrat dafür einzusetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen den EU-Mitgliedstaat Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland gemäß 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen Artikel 16 AEUV einleitet.

 

2.      Der Landtag appelliert an die Europäische Kommission, gegen den EU-Mitgliedstaat Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland gemäß Artikel 258 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen Artikel 16 AEUV einzuleiten.

 

3.      Der Landtag appelliert an die nordrhein-westfälischen Mitglieder des Europäischen Parlaments sich fraktionsübergreifend für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlaments zur Aufarbeitung der genannten Vorwürfe gegen den Mitgliedstaat Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland einzusetzen.

 

 

 

 

Dr. Joachim Paul

Monika Pieper

Nicolaus Kern

 

 

und Fraktion

 


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