< Zurück zum Blog
Das Dokument als PDF abrufen: Hier klicken!

LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/5278

 

18.03.2014

 

 

 

 

Antrag

 

der Fraktion der PIRATEN

 

 

 

 

Das transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP läuft nordrhein-westfälischen Interessen grundsätzlich zuwider!

 

 

I. Sachverhalt

 

Seitdem der EU-Ministerrat im Juni 2013 der Europäischen Kommission das Mandat für die Verhandlung über ein transatlantisches Freihandels- und Investitionsabkommen (TTIP) erteilt hat, sind bereits mehrere Verhandlungsrunden in Brüssel und Washington abgehalten worden. Die vierte Runde fand vom 10. bis zum 14. März 2014 in Brüssel statt. Das geplante Abkommen soll primär den gegenseitigen Marktzugang für Güter, Dienstleistungen, Investitionsvorhaben sowie die öffentliche Auftragsvergabe regeln. Über die zu erwartenden Effekte für die EU als Ganzes sowie Deutschland und Nordrhein-Westfalen im Speziellen herrscht in der Wissenschaft Uneinigkeit. Allgemein angenommen wird, dass das Abkommen weniger kleinen und mittelständischen Firmen, sondern vor allem global aufgestellten Konzernen nutzen würde.

 

Die Verhandlungen finden grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Presse statt. Privilegierten Einfluss auf die Verhandlungen haben vor allem Vertreter von (multinationalen) Konzernen und deren Branchen. Auch die Vorbereitungstreffen der europäischen Verhandlungsführer, deren Ausgestaltung im Ermessen der Europäischen Kommission liegt, waren dominiert von Vertretern großer Industrieverbände. Verbraucherschutz- oder Umweltverbände waren in dieser Phase stark unterrepräsentiert.

 

Aber auch von einer privilegierten Einflussnahme von Industrie- und Konzernvertreter während und zwischen den Verhandlungsrunden muss ausgegangen werden. So wird bei Verhandlungsmandaten dieser Art ein Sonderausschuss gemäß Art. 207(3) AEUV eingerichtet, dem die für Handelspolitik zuständigen Hohen Beamten der Mitgliedstaaten, üblicherweise im Range von Generaldirektoren, angehören. Die genaue Zusammensetzung dieses Sondergremiums bleibt dabei vertraulich. Selbstredend haben ressourcenstarke Branchenverbände und Großkonzerne aber auch auf dieses nicht öffentlich tagende Gremium weitaus mehr Einflussmöglichkeiten als Nichtregierungsorganisationen aus den Bereichen Verbraucher- und Umweltschutz. Verhandlungsinhalte aus dem Sonderausschuss werden dem Europäischen Parlament dabei generell nur in sehr begrenztem Umfang über die Berichterstattung des EU-Ministerrats mitgeteilt. Ebenso werden der Öffentlichkeit nur rudimentäre Informationen aus den Treffen der sogenannten „TTIP Advisory Group“, ein mitberatendes Gremium aus Kommissions-, Industrie- und einigen wenigen Gewerkschafts- und Verbrauchervertretern, zur Verfügung gestellt.

 

Einer der strittigsten Punkte des TTIP sind zweifelsohne die geplanten Regelungen zum sogenannten Investitionsschutz. Im Rahmen von Investor-Staat-Schiedsverfahren soll es Unternehmen möglich sein, gegen staatliche Regelungen zu klagen, wenn sie sich von diesen in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit benachteiligt sehen. Unternehmen sollen für den Einzelfall einberufene Schiedsgerichte anrufen können. Diese fallen dann für die Staaten bindende Entscheidungen. Dabei sollen die Unternehmen analog zu vergleichbaren internationalen Freihandels- und Investitionsabkommen auch Anspruch auf Kompensation „entgangener Gewinne“ geltend machen können, etwa wenn eine Gesetzesänderung den Wert einer Investition mindert. So ist es beispielsweise denkbar, dass US-Konzerne gegen das auch in Deutschland geltende Verbot der ökologisch umstrittenen Erschließung von Gas im Gestein (Fracking-Verbot) klagen. Dabei bewerten viele Experten eben diese Klauseln als rechtsstaatlich äußerst bedenklich und undemokratisch: Sie unterwandern potenziell die Souveränität der nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten und deren Rechtsordnungen. Erfolgreiche kompensatorische Klagen gegen das Fracking-Verbot hat es bereits gegen den Vertragspartner Kanada des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) gegeben. Umfangreiche Regelungen zu den Investor-Staat-Klagen, die genannte Befürchtungen unterstreichen, finden sich in einem Ende Februar 2014 geleakten Entwurf des TTIP-Abkommens wieder.

 

Die Europäische Kommission hat Anfang 2014 auf die anhaltende öffentliche Kritik reagiert und verkündet, vorerst Investor-Staat-Klagen aus den Verhandlungen herauszunehmen. Gleichzeitig kündigte sie diesbezüglich eine öffentliche Konsultation auf europäischer Ebene an. Öffentliche Konsultationen sind für die Kommission allerdings in keiner Weise bindend.

 

Das sowohl in seinem Entstehungsprozess als auch bezüglich des Inhalts äußerst umstrittene „Anti-Counterfeiting Trade Agreement“ (ACTA), ein multilaterales Abkommen, das internationale Standards für die Durchsetzung von Immaterialgüterrechten vorschlägt, wurde im Juli 2012 nach umfangreichen öffentlichen Protesten in ganz Europa vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit abgelehnt und von Deutschland seither nicht ratifiziert. ACTA und TTIP verbindet dabei viele Gemeinsamkeiten: Die Hauptkritikpunkte gegen ACTA werden von unabhängiger Seite auch gegen das TTIP-Abkommen vorgebracht. So sind durch TTIP neben der allgemeinen Absenkung der Verbraucherrechte im Internet vor allem weitere Restriktionen bei Softwarepatenten sowie die Tendenz zur verpflichtenden aktiven Überwachung des Internetverkehrs durch Netzzugangsanbieter zu befürchten. Bestärkt werden diese Befürchtungen durch das kurz vor der Vollendung stehende „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (CETA) zwischen der EU und Kanada, welches bekanntgewordenen Entwürfen zufolge einige vergleichbare und sogar teilweise wortgleiche Passagen des gescheiterten ACTA beinhaltet.

 

Auch vor dem Hintergrund der anhaltenden Enthüllungen von Whistleblower Edward Snowden gewinnen Befürchtungen hinsichtlich einer weiteren Absenkung von Datenschutzstandards durch TTIP weiter an Relevanz. Obwohl nicht explizit im Verhandlungsmandat der Kommission enthalten, muss davon ausgegangen werden, dass zumindest die
US-amerikanischen Verhandlungsführer Versuche unternehmen, die Notwendigkeit der Ausweitung des freien Datenflusses zwischen den Vertragsparteien (insbesondere zur Förderung des elektronischen Handels) geltend zu machen und europäische Datenschutzstandards als Handelshemmnisse darzustellen. Da die Datenschutzstandards auf
US-amerikanischer Seiten deutlich niedriger sind, birgt dies die immanente Gefahr der Umgehung bzw. Unterwanderung der in Deutschland und der EU geltenden Datenschutzregeln über das TTIP-Abkommen – insbesondere vor dem Hintergrund der sich in der Schwebe befindlichen EU-Datenschutzreform.

 

Darüber hinaus heftig umstritten sind die möglichen Auswirkungen des transatlantischen Abkommens auf die mittelständische Wirtschaft (in Deutschland und NRW), die kommunale Selbstverwaltung und öffentliche Daseinsvorsorge. Denn im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens verfolgt das Abkommen einen aggressiven Marktöffnungskurs. In diesem Zusammenhang wird auf die mögliche Verdrängung lokaler Unternehmen bei der Erbringung von den deutschen Bundesländern, Bezirken, Landkreisen bzw. Kreisen sowie anderen relevanten Gebietskörperschaften öffentlich auszuschreibenden Dienstleistungen aufmerksam gemacht. Die auch in NRW politisch gewünschte regionale Verankerung der Dienstleistungserbringer bzw. -erbringung würde dann nicht mehr ohne weiteres zu gewährleisten sein. Durch eine erzwungene und nicht differenzierende Marktöffnung über TTIP sind aber auch negative Auswirkungen auf die interkommunale Zusammenarbeit sowie die Erbringung selbst sensibelster Dienstleistungen durch die Kommunen selber bzw. kommunaler Unternehmen zu erwarten. Seitens der europäischen Verhandlungsführer wurden derartige Befürchtungen der Kommunen, Bevölkerung und mittelständischen Unternehmen weder offiziell adressiert noch zu entkräften versucht. Die breite gesellschaftliche Diskussion über die Herausnahme der Trinkwasserversorgung aus dem Anwendungsbereich der
EU-Konzessionsrichtlinie zeigt das große öffentliche Interesse an Fragen der öffentlichen Daseinsvorsorge.

 

In der Antwort (Drs. 16/4959) auf die Kleine Anfrage der Fraktion der PIRATEN
(Drs. 16/4740) vom 07. Januar 2014 verweist die Landesregierung darauf, formale Mitwirkungsmöglichkeiten erst nach dem Abschluss des Ratifizierungsverfahrens in den Mitgliedstaaten der EU bzw. im sogenannten Lindauer Verfahren zu haben. Vor diesem Hintergrund sieht die Landesregierung nach eigener Aussage infolge des bereits erfolgten Herantragen der Forderung hinsichtlich der besonderen Schutzwürdigkeit der audio-visuellen und der kulturellen Dienstleistungen an die Bundesregierung über den Bundesrat momentan keine Notwendigkeit für weitere konkrete Schritte bezüglich der Beeinflussung der Verhandlungsinhalte. Dementsprechend sieht die Landesregierung nach eigener Aussage auch keinerlei Notwendigkeit, eine öffentliche Debatte zu den Verhandlungsinhalten anzustoßen, solange der Bereich der audio-visuellen Dienstleistungen vom Verhandlungsmandat ausgenommen bleibt. Sie bringt damit ihre Haltung zum Ausdruck, keine Debatten anstoßen zu wollen, selbst wenn andere in die Landeskompetenz fallende Themen, beispielswiese die Auswirkungen auf die kommunale Selbstverwaltung und öffentliche Daseinsvorsorge, im Rahmen der TTIP-Verhandlungen berührt werden können.

 

Die hohe Bedeutung einer offenen und informierten öffentlichen Debatte zu TTIP ist unter Demokratie- und Legitimationsgesichtspunkten offensichtlich. Welche hohe Bedeutung die Europäische Kommission der eigenen Deutungshoheit im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung des Abkommens  beimisst, zeigt ein im November 2013 geleaktes Kommissionsdokument. Darin weist die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten auf die „kommunikativen Herausforderungen“ hinsichtlich der TTIP-Verhandlungen hin und fordert eine „radikal andere“ Kommunikationsstrategie. So betont die Kommission in besagtem Dokument, dass in der öffentlichen Darstellung unbedingt die angenommenen positiven Effekte des Abkommens in den Vordergrund gerückt werden müssen. Zurzeit sei man zu sehr auf das Beschwichtigen sowie das Erklären, was nicht im Rahmen der TTIP-Verhandlungen behandelt wird bzw. werden soll, fokussiert. Der Öffentlichkeit solle mit einer neuausgerichteten Kommunikation die Angst bezüglich der möglichen negativen Auswirkungen, beispielsweise auf die europäischen Sozialstandards, genommen werden.

 

Jüngsten Medienberichten zufolge genießt das TTIP-Abkommen bei den europäischen Regierungen nicht mehr die volle Rückendeckung. Demnach seien einige Mitgliedstaaten mit den von US-amerikanischer Seite angebotenen Zollsenkungen grundsätzlich unzufrieden. Zudem zeigten sich die Regierungen von den teils substanziellen Widerständen aus den europäischen Gesellschaften gegen das TTIP-Abkommen überrascht.

 

 

II. Der Landtag

 

1.      beklagt die intransparente Verhandlungsführung und mangelnde Rückkopplung mit den nationalen sowie Landesparlamenten der Mitgliedstaaten der EU während der laufenden Verhandlungen. Es ist nach Ansicht des Landtags NRW vollkommen inakzeptabel, wichtige Informationen hinsichtlich der Verhandlungsinhalte, des Verhandlungsfortschritts sowie der Verhandlungsergebnisse zu einem beträchtlichen Teil aus unplanmäßig an die Öffentlichkeit gelangten (d.h. geleakten) Dokumenten zu beziehen.

 

2.      zeigt sich zutiefst besorgt ob der äußerst unterschiedlich ausfallenden Prognosen hinsichtlich der Auswirkungen von TTIP auf die nordrhein-westfälische Wirtschaft und Bevölkerung. Der Landtag NRW ist auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen nicht in der Lage, feststellen zu können, ob die angenommen positiven wirtschaftlichen Effekte in einem vertretbaren Verhältnis zu den befürchteten Negativfolgen für NRW stehen.

 

3.      ist der Auffassung, dass die nun seitens der Europäischen Kommission initiierte öffentliche Konsultation zu den sogenannten Investor-Staat-Klagen keinesfalls ausreichend ist, um das notwendige Maß an Transparenz gegenüber den nationalen und regionalen Parlamenten sowie der allgemeinen Öffentlichkeit herzustellen. 

 

4.      ist der Auffassung, dass durch TTIP die immanente Gefahr einer effektiven Absenkung von Datenschutzstandards in Deutschland und NRW besteht.

 

5.      ist der Auffassung, dass es oberstes politisches Ziel der Landesregierung sein muss, die Interessen der nordrhein-westfälischen Bürger und Wirtschaft, beispielsweise in Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung und öffentliche Daseinsvorsorge, frühzeitig und (pro-)aktiv zu vertreten und schützen.

 

6.      zeigt sich besorgt, dass über TTIP entsprechende Regelungen zur Durchsetzung von Immaterialgüterrechten, die bereits im Rahmen von ACTA mehrheitlich vom Europaparlament abgelehnt wurden, eingeführt werden könnten. Jegliche Regelungen, die eine allgemeine Absenkung der Verbraucherrechte im Internet, weitere Restriktionen im Hinblick auf Patente, beispielsweise bei Softwarepatenten, sowie die Tendenz zur verpflichtenden aktiven Überwachung des Internetverkehrs durch Netzzugangsanbieter bedeuten würden, sind strikt abzulehnen.

 

7.      ist der Auffassung, dass es weiterhin einer breiten öffentlichen Debatte zu den Inhalten der TTIP-Verhandlungen bedarf.

 

8.      stellt fest, dass die nordrhein-westfälische Bevölkerung vollkommen unzureichend über das transatlantische Freihandels- und Investitionsabkommen und seine möglichen Auswirkungen auf NRW informiert ist und somit weder in der Lage ist, eine informierte Debatte zu verfolgen, noch mitzutragen.

 

9.      ist der Auffassung, dass es unter den jetzigen Bedingungen, d.h. auf Basis des jetzigen Verhandlungsmandats der Europäischen Kommission, zu keinem für die Gesamtheit der nordrhein-westfälischen Bevölkerung, der lokalen Wirtschaft sowie der kommunalen Familie nutzbringendem transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen kommen kann.

 

 

III. Der Landtag beschließt

 

1.      Der Landtag fordert die Landesregierung dazu auf, sich auf allen politischen Ebenen für ein Ende der unter den jetzigen Bedingungen geführten Verhandlungen zum transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen TTIP einzusetzen.

 

2.      Der Landtag fordert die Bundesregierung dazu auf, den Deutschen Bundestag und die Landesparlamente unverzüglich und vollumfänglich über den ihr bekannten Stand der Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen in regelmäßigen Intervallen zu informieren.

 

3.      Der Landtag appelliert an die Europäische Kommission, zu jeder Zeit für eine transparente und nachvollziehbare Verhandlungsführung im Rahmen der Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen zu sorgen – insbesondere über die sofortige und vollumfängliche Veröffentlichung der Verhandlungsprotokolle.

 

4.      Der Landtag fordert die Landesregierung dazu auf, öffentliche Debatten insbesondere zu jenen potenziell durch TTIP betroffenen Sachgebieten anzustoßen, die von einer hohen Regelungskompetenz durch die deutschen Bundesländer, wie beispielsweise die kommunale Selbstverwaltung und öffentliche Daseinsvorsorge, geprägt sind.

 

 

 

 

Dr. Joachim Paul

Nicolaus Kern

Marc Olejak

Daniel Schwerd

Frank Herrmann

 

 

und Fraktion

 


< Zurück zum Blog
Das Dokument als PDF abrufen: Hier klicken!