„Besser einfach wegschauen“: Sexueller Übergriff in der Bahn und die Reaktion der Polizei

Bahmhofsgang

Eine Frau schildert hier in der Zeit online, wie sie im Mai dieses Jahres im Zug von betrunkenen Fußballfans bedrängt und begrabscht wird. Triggerwarnung: Die Schilderung ist drastisch.

Zwar erscheint die Polizei, doch wie sie darauf reagiert ist einfach unfassbar: Dem Zugführer wird empfohlen, einfach wegzuschauen, die Betroffene soll eine eMail mit dem Tathergang schicken, wird ungefragt geduzt und bleibt ansonsten alleingelassen. Natürlich wird sie nur von männlichen Beamten befragt. Gegen die Täter unternimmt man nichts, man will sie nicht provozieren: Die Polizei zieht wieder ab.

Einen Monat nach dem Vorfall bekommt sie einen Brief von der Bundespolizei: Sie möge nach § 185 StGB Anzeige wegen des Verdachts auf Beleidigung gegen die Fußballfans erstatten.

Dieser Fall offenbart sehr krass die Strafbarkeitslücke im deutschen Strafrecht, was solche sexuellen Übergriffe angeht: Die Frau darf eine Anzeige wegen § 185 StGB stellen – wegen Beleidigung. Als das gilt so ein Fall nämlich. Man kann von Glück sagen, wenn deswegen überhaupt Verurteilungen zustande kommen.

Aus den Übergriffen an Silvester am Kölner Hauptbahnhof hat man einfach überhaupt nichts gelernt. Die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden sind so unsensibel wie eh und je, und die Rechtslücke ist immer noch offen.

Gestern saß ich in einer Anhörung im Ausschuss für Frauen, Gleichstellung und Emanzipation. Geladen waren mehrere Vertreterinnen von Frauenhäusern und -Initativen sowie vom Juristinnenbund, und Vertreter vom Weißen Ring und der Deutschen Bahn. Es ging um die Vorfälle der Silvesternacht in Köln: All diese Probleme, die Strafbarkeitslücke, die anschließend unterlassene Hilfe, das unsensible Vorgehen von Polizei und Justiz in solchen Fällen sind schon so lange bekannt. Vorhandene Instrumente zum Zeugenschutz werden einfach nicht angewendet. Unter diesen Umständen ist auch nicht verwunderlich, dass über 90% aller Opfer gar keine Strafanzeigen stellen.

Ich könnte vor Wut explodieren.

Anhörung zu „Gegen sexualisierte Gewalt. Immer, überall und ausnahmslos“

Landtag Eingang

Heute lief die Anhörung im Landtag NRW im Ausschuss zu Frauen, Gleichstellung und Emanzipation zu den Anträgen, die in der Folge der Silvesternacht gestellt worden waren, auch zu meinem Antrag „Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall. Ausnahmslos“. Die Anhörung war sehr spannend und auch erschreckend, sie hat viele Schwachstellen der Betreuung von Opfern dieser Gewalt aufgezeigt. Das Dunkelfeld ist erschreckend, weit über 90% aller Fälle werden nicht angezeigt. Die Auswertung der Anhörung wird sicher sehr umfangreich werden. Wir haben eine gemeinsame Pressemitteilung verfasst:

Gegen sexualisierte Gewalt. Immer, überall und ausnahmslos

Der Ausschuss für Frauen, Gleichstellung und Emanzipation des NRW-Landtags beschäftigte sich heute im Rahmen einer Anhörung mit dem Thema sexualisierter Gewalt. Die NRW-Linke kritisiert, dass viele Übergriffe auf Frauen noch immer nicht aufgearbeitet werden.

„Sexualisierte Gewalt ist für viele Frauen alltäglich, sie werden vergessen, ausgegrenzt und stigmatisiert“, erklärt Özlem Alev Demirel, Landessprecherin der Linken NRW. „Es kann nicht sein, dass über sexualisierte Gewalt und Belästigung nur dann berichtet wird, wenn wie in der Silvesternacht in Köln die Herkunft der Täter nicht deutsch ist. Übergriffe auf Frauen müssen thematisiert werden – egal ob es um die Silvesternacht oder das Oktoberfest geht.“

Die Dunkelziffer sexualisierter Gewalt und Belästigung, das bestätigten die Experten in der Anhörung erneut, ist in Deutschland nach wie vor hoch. Nach Ansicht der Linken ist der Gesetzgeber gefragt wirksame Strukturen zu schaffen, um sexualisierte Gewalt und Belästigung zu verhindern und die Opfer zu schützen.

„Niemand darf Opfer sexualisierter Gewalt werden, und kein Opfer darf damit alleine gelassen werden“, so der Linken-Landtagsabgeordnete Daniel Schwerd. „Das Land muss die Unterstützung von Beratungsstellen und Frauenhäusern und anderer Hilfsangebote gewährleisten und finanziell ausbauen. Polizei und Justiz müssen im sensiblen Umgang mit Opfern intensiver geschult werden. Darüber hinaus ist es dringend notwendig, die immer noch bestehenden Lücken im Strafrecht zu schließen und die von der Bundesregierung bereits unterschriebene Istanbul-Konvention des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen endlich in geltendes Recht umzusetzen.“

„Realitätsschock“ beim Breitbandausbau in NRW

Glasfaser

Nach aktuellen Presseberichten zieht der zuständige Parlamentarische Staatssekretär Horst Becker die Realisierung der bisherigen Ziele der Landesregierung im Breitbandausbau in Zweifel. Auch beim Breitbandausbau hat Hannelore Kraft offenbar den Mund zu voll genommen.

Ebenso wie Wahlprogramm und Koalitionsvertrag einem Realitätscheck nicht standhalten, muss jetzt auch die Landesregierung beim dringend notwendigen Breitbandausbau in NRW zurückrudern. Seit Jahren weise ich auf Versäumnisse in diesem Bereich hin. Nach wohlfeilen Versprechungen, dass bis 2018 sämtliche Haushalte in NRW mit 50 Mbit pro Sekunde an ein schnelles Internet angeschlossen sein sollen, wird der Realitätscheck in dieser Frage zum Realitätschock.

Staatssekretär Becker und Umweltminister Johannes Remmel (beide Grüne) hatten bei einer Pressekonferenz die Pläne ihres Hauses vorgestellt, das schnelle Netz im ländlichen Raum zu fördern. Dabei gaben sie als neue Zielsetzung an, dass bis 2018 nicht mehr sämtliche Haushalte, sondern nur mehr 85 % aller Haushalte an das schnelle Netz angeschlossen werden sollen.

Mit dem zögerlichen Ausbau des Breitbandnetzes in NRW ist die Landesregierung im Begriff, unsere digitale Zukunft zu verspielen. Dabei war das Ziel nicht hoch gesteckt: Vom Gigabit-Internet war noch nicht einmal die Rede. Die Folge dieses Versagens ist, dass sich die digitale Spaltung der Gesellschaft weiter vertiefen wird. Jeder weiß, dass gerade diese letzten 15% am schwierigsten sein werden. Doch man drückt sich davor, dieses Ziel zeitnah zu bewältigen.


Weitere Informationen:

Plenarrede „Fahrplan Breitbandausbau für NRW“, aus 2013:

Plenarrede „Fahrplan Breitbandausbau für NRW“

Wir brauchen eine #Glasfaser-Strategie für unser Land, aus 2015:

Wir brauchen eine #Glasfaser-Strategie für unser Land

Klares Bekenntnis zu Glasfaser-Breitband fehlt in NRW, aus 2016:

Klares Bekenntnis zu Glasfaser-Breitband fehlt in NRW

Auf den Schultern von Giganten: Die Konsequenzen des Sampling-Urteils

schallplatte

Vergangene Woche hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil in der Frage verkündet, inwieweit Musiker kurze Stücke anderer Künstler für eigene Werke benutzen dürfen. Bislang war das – ohne explizite Einwilligung – nicht möglich. Die Düsseldorfer Elektropioniere von Kraftwerk waren gegen den Musikproduzenten Moses Pelham vorgegangen, weil dieser einen zwei Sekunden langen Schnipsel eines ihrer Songs benutzt hat, um damit einen eigenen Song zu erschaffen. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes gegen ihn musste Pelham das Stück zurückziehen.

Das Verfassungsgericht entschied nun, dass solche Benutzung unter gewissen Voraussetzungen doch erlaubt sein soll – ein Sieg für die Remix-Kultur und die moderne Pop- und Dance-Musik, die stark von Samples lebt. Die Kunstfreiheit sei berührt, durch dieses Verbot sei faktisch eine ganze Musikrichtung behindert, so das Gericht. Das Verfahren wurde an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen, der nun in diesem Sinne entscheiden soll.

Der Urteilstext des Bundesverfassungsgerichts ist hochspannend. Dort heißt es zum Beispiel: Es »gebietet die Eigentumsgarantie … nicht, dem Tonträgerhersteller jede nur denkbare wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit zuzuordnen. Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen; er muss von Verfassungs wegen nur sicherstellen, dass das, was dem Leistungsschutzrechtsinhaber ›unter dem Strich‹ verbleibt, noch als angemessenes Entgelt für seine Leistung anzusehen ist.« Damit stellt das Verfassungsgericht klar, dass ein Künstler nicht pauschal jede Art der Nutzung seines Werks untersagen darf. Es darf sehr wohl erlaubt sein, seine Songs in einer fairen Art und Weise zu nutzen, wenn dem Künstler noch eine angemessene Entlohnung seiner Arbeit verbleibt. Die Grenzen dafür darf der Gesetzgeber festlegen.

Wir alle stehen auf den Schultern von Giganten. Jede Erfindung, jedes Werk bedient sich gewisser Ideen, Teile und Konzepte von Erfindungen und Werken zuvor. Das ist künstlerischer, kultureller, wissenschaftlicher Fortschritt. Eine derartig weite Auslegung des geistigen Eigentumsbegriffs, dass auch kleinste Teile erlaubnis- und vergütungspflichtig sein sollen, behindert diese Fortentwicklung. Man stelle sich vor, der erste Erfinder des Autos hätte den folgenden Autoherstellern die Nutzung des Lenkrades untersagt: Eine Autoindustrie wäre nie entstanden.

Ein Künstler muss in einen künstlerischen Dialog mit vorhandenen Werken treten können, die durch ihre Veröffentlichung nicht mehr dem Urheber alleine gehören, sondern in den gesellschaftlichen Raum getreten seien, urteilt das Gericht. Es muss aber ein ausreichender Abstand zum Ursprungswerk eingehalten werden. Hip-Hop und moderne Dance-Music nutzen Sampling intensiv. Es gibt eine ganze Remix-Kultur, die auf vorhandenen Werken aufbaut und daraus etwas Neues, Eigenständiges schafft. Als Rohmaterial für neue Lieder kann ein Musiker nun Teile von Werken der Künstler vor ihm verwenden, wenn er dies fair tut, also den kommerziellen Erfolg des Vorgängers damit nicht behindert. Damit wird einem Auswuchs des »geistigen Eigentums« Einhalt geboten.

Doch auch ein anderer Auswuchs könnte vom Urteil berührt sein: das Leistungsschutzrecht für Presseverleger. So sagt das Gericht: »Der Grund dafür, dem Tonträgerhersteller ein besonderes gesetzliches Schutzrecht zu gewähren, war nicht, ihm Einnahmen aus Lizenzen für die Übernahme von Ausschnitten in andere Tonaufnahmen zu sichern … Der Schutz kleiner und kleinster Teile durch ein Leistungsschutzrecht, das im Zeitablauf die Nutzung des kulturellen Bestandes weiter erschweren oder unmöglich machen könnte, ist jedenfalls von Verfassungs wegen nicht geboten.« Doch genau das tut das Leistungsschutzrecht für Presseverleger: »Snipplets«, also kleine Textauszüge, die zum Beispiel Suchmaschinen als Textanreißer in ihren News-Suchergebnissen benutzen, sind erlaubnis- und vergütungspflichtig. Die Verleger berufen sich auf ihre verfassungsmäßig garantierten Eigentumsrechte, und der Gesetzgeber hat die Nutzung solcher auch kurzer Textauszüge lizenzpflichtig gemacht. Damit befindet sich aber dieses Leistungsschutzrecht in klarem Widerspruch zum Bundesverfassungsgerichtsurteil: Es darf in Analogie zu diesem Urteil gerade eben nicht um das Generieren von Einnahmen bei Übernahme von Textausschnitten gehen, und die Nutzung dieses kulturellen Bestandes darf dadurch nicht erschwert werden. Das Leistungsschutzrecht für Presseverleger steht im Lichte dieser Entscheidung auf wackligen Beinen.


Dieser Artikel erschien am 08. Juni 2016 als Gastkommentar im Neuen Deutschland.